Allgemein Kolumnen

Vertrieben aus dem Paradies der Unschuld: Wall-E und Eve – Geschlecht im Kinderfilm

Dies ist (wow!) der 1000. Beitrag hier im Kinderfilmblog – ja, ja, kaum macht man etwas siebeneinhalb Jahre, schon passiert so etwas. Zur Feier dieser runden Zahl wollte ich hier einmal keine Introspektion betreiben, sondern einen längeren Text zu einem Thema (oder genauer: einer spezifischen Kombination von Themen) schreiben, das mich im Hintergrund immer mit beschäftigt. Einen Anlass dazu gab es kürzlich auch, also passt es doppelt. Hoffentlich interessiert es Euch auch, bleibt mir gewogen, werdet Fördermitglied, abonniert den Newsletter. Und zieht bitte die Masken auch über die Nase. Danke, dass Ihr hier mitlest.

Im Pixar-Film Wall-E von 2008 arbeitet der gleichnamige kleine, eckige Aufräumroboter fleißig auf einer völlig zugemüllten Erde, er sammelt, komprimiert und stapelt Abfall zu großen Pyramiden auf. Pflanzen scheinen hier keine mehr zu wachsen, bis Wall-E eher zufällig einen Keimling findet, der es sich innen in einem Kühlschrank gemütlich gemacht hat.

Kurz darauf landet eine Rakete in der Nähe und lässt einen weiteren Roboter heraus, Eve. Anders als der kantige, gedrungene, schmutzige Müllsammler ist Eve – offenbar mit einem Suchauftrag auf der Erde abgesetzt – weiß, abgerundet, sauber. Wall-E ist anscheinend fasziniert von dieser neuen Maschine; seine Versuche der Kontaktaufnahme werden von Eve zunächst mit Energiestrahlen und Sprengungen beantwortet. Erst später nimmt Eve das Gegenüber Wall-E als Roboter wahr, stuft ihn augenscheinlich als harmlos ein und ignoriert ihn dann zunächst einmal.

Wall-Es Traumwelt ist eine weiße Bourgeoisie-Phantasie des 19. Jahrhunderts aus den 1960er Jahren

Wall-E aber folgt Eve und bemüht sich um Eves Aufmerksamkeit, wobei er sich gelegentlich etwas ungeschickt anstellt. Als einer der regelmäßig wiederkehrenden Sandstürme tobt, „rettet“ er Eve in seine Basisstation und zeigt dem neuen Roboter neben vielen eigentümlichen Souvenirs, die er im Lauf der Jahre (Jahrzehnte?) aus dem Müll gezogen hat, auch ein Video, das er sich immer wieder ansieht: Einen Ausschnitt aus dem Musicalfilm Hello, Dolly! (USA 1969, Regie: Gene Kelly, mit Barbra Streisand in der Hauptrolle).

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In Hello, Dolly!, einem so amüsanten wie heute recht vergessenen Film, geht es um die Heiratsvermittlerin Dolly Levi, die es sich zur Aufgabe gemacht hat (und bezahlen lässt), geeignete Damen und Herren der New Yorker Gesellschaft (und Umgebung) zusammenzubringen – dabei aber als Witwe auch ein ganz eigenes Ziel verfolgt. Das ist (vor allem natürlich dank der Hauptdarstellerin) unterhaltsam, ein wenig altmodisch, sehr heteronormativ und bringt ein paar extrem eingängige Songs mit, die man auch nach Wall-E zuverlässig im Ohr hat. (Hier gibt es einen Trailer. Beide Filme sind übrigens auf Disney+ in der Flatrate zu finden.)

Eve schaltet ab

In Wall-Es Lagerraum findet Eve dann auch die Pflanze, das Ziel des Suchauftags: Sobald Eve des Keimlings ansichtig wird, den Wall-E in einem alten Stiefel gelagert hat, verstaut Eve Schuh und Pflanze in sich – und schaltet sich ab.

Der Film suggeriert nun deutlich (gesprochen wird von beiden Robotern ja eigentlich kein Wort, nur ihre Namen werden verstehbar vertont), dass Wall-E verzweifelt, weil die einzige Entität (außer der Kakerlake, um die er sich kümmert, indem er sie z.B. mit Süßkram versorgt), mit der er in eine Art Dialog treten konnte, auf einmal nicht mehr ansprechbar ist.

Wall-E

Er nimmt nun den anderen Roboter in einem Boot mit, setzt Eve neben sich auf eine Bank, ganz mit Leuchtgirlanden umwickelt, und brennt mit seinem Laser ein Herz mit „Wall-E + Eve“ in einen Laternenpfahl. Kurzum: Er macht mit der nicht reagierenden Eve das, was Menschen (zumindest nach den üblichen Konventionen) bei einem romantischen Date machen würden.

Zwei Maschinen in der Geschlechterordnung

Es ist bemerkenswert, wieviel inszenatorische Arbeit sich der Film von Andrew Stanton macht, seine beiden Hauptfiguren als irgendwie geschlechtlich markierte Entitäten zu zeigen.

Dazu werden sie natürlich zunächst antropormorphisiert, Wall-E verleiht also beiden menschliche Züge, indem sie Augen und andere Merkmale bekommen, die an Gesichter erinnern, indem sie menschenähnliches Vehalten zeigen und miteinander interagieren.

Alle diese Eigenschaften sind dabei bereits auf sehr spezifische Weise geschlechtlich markiert, zum Beispiel:

  • Aussehen
    Wall-E zeigt warme Farben, wirkt schmutzig und kantig; solches, etwas ungepflegtes Äußeres wird meist mit (der hegemonialen Form von) Männlichkeit assoziiert. Eve ist weiß, schwarz und blau (die Augen), glatt, elegant, gepflegt, fast möchte man sagen: distinguiert.
  • Verhalten
    Während Wall-E sehr direkt, wenn auch gelegentlich recht tolpatschig agiert (auch dies natürlich in bekanntes Element z.B. aus Screwballkomödien – und auch eine Form von Männlichkeit, die in Hello, Dolly! dominiert), erscheint Eve zunächst distanziert und fast hochnäsig; später wird sie gelegentlich über Wall-E und sein Verhalten kichern. Das steht durchaus im Kontrast dazu, dass sie von den beiden die rücksichtslosere und (durch ihre Kanone) machtvollere Figur ist.
  • Arbeit
    Wall-E ist im Grunde genommen Müllmann – seine Arbeit ist der Inbegriff der physischen Tätigkeit, die meist mit Männlichkeit assoziiert wird. Eve dagegen schwebt im Wortsinn über den konkreten Dingen, ihre Arbeit ist rein beobachtend und berührungslos. Gegenüber dem “Arbeiter” Wall-E ist sie fast “bourgeois” oder sogar “aristokratisch” – beides Positionen, die meist aus der Perspektive traditionell-hegemonialer Männlichkeit als schwächelnd, effeminiert beschrieben werden.
  • Blickrichtungen
    Als Eve landet, wiederholen die Einstellungen des Films eine Grundkonstellation des Kinos: Wall-E schaut, Eve wird angeschaut. Beide Positionen sind im klassischen Hollywoodkino durchaus (wenn auch nicht konsequent) gegendert: Meistens schaut der Mann, die Frau ist Objekt. Laura Mulvey, eine der Pionierinnen der feministischen Filmwissenschaft hat den “male gaze” und für die weibliche Seite die Eigenschaft der “to-be-looked-at-ness” beschrieben. (Und auch wenn ihre Positionen heute umstritten sind, nicht zuletzt aufgrund ihrer psychoanalytischen Grundierung: Ein Strukturmerkmal des Kinos ist das bis heute geblieben, man denke nur an die Art und Weise, wie Michael Bay in der Regel seine Frauenfiguren inszeniert, z.B. in Transformers.)

Das bedeutet nicht, dass alle diese Eigenschaften völlig konsistent auf ein hegemoniales Bild von Männlichkeit bei Wall-E hindeuten, ganz im Gegenteil. In seinem Verhalten gegenüber der Kakerlake und der Pflanze wird er klar als fürsorglich und mitfühlend gezeigt, er ist offen für Kommunikation, kindlich-verspielt und (über-)emotional. Im Gegensatz dazu Eve zunächst eher distanziert – öffnet sich aber nach und nach.

Die beiden Roboter besetzen auch damit Geschlechterrollen, die im Kino erprobt und wiederholt werden: der charmante, etwas unbeholfene, aber niedliche Mann, der auch die etwas distanziertere Frau für sich gewinnen kann. So ungefähr kann man, möchte ich behaupten, die Wirkung der Inszenierung in Wall-E auf die meisten Zuschauer_innen beschreiben.

Wall-E und Eve sind reines gender ohne sex

Wall-E wird von uns in der Regel als „männlich“ identifiziert, Eve als „weiblich“ – eine perfekte Grundlage also dafür, zwischen den beiden Robotern nicht nur eine „Freundschaft“ als Beziehung entstehen zu lassen, sondern eine Art von romantischer Beziehung.

Nichts daran ist freilich zwingend gegeben. Wall-E und Eve haben kein „natürliches“ Geschlecht: Es sind beides Roboter. Wir würden ihnen, um in Begriffen der feministischen Analyse zu sprechen, kein „sex“ zusprechen, kein (wie auch immer verfasstes) „biologisches“ Geschlecht.

Sehr wohl wird ihnen aber ein „gender“ zugeordnet, was oft unvollständig mit „sozialem“ Geschlecht übersetzt wird – letztlich beschreiben wir damit eine ganze Wolke von möglichen Zuschreibungen, die sich insbesondere an Verhalten und Aussehen festmachen, letztlich aber immer auf Konventionen rekurrieren, wie ein bestimmtes Geschlecht sich zu verhalten oder auszusehen habe.

Im Rahmen unserer heteronormativen Geschlechterordnung wird das stets in zwei Geschlechtern (männlich und weiblich) gedacht, die einerseits voneinander strikt getrennt seien, andererseits einander (und das weitgehend exklusiv) romantisch zugewandt seien. Sprich: Gedacht wird eine bipolare Ordnung, in der Heterosexualität die Norm ist. (Und zu diesem System als hegemoniale Ordnung gehört auch, dass alle, die sich nicht in diese Ordnung, in diese Norm einfügen wollen oder können, nicht nur als Abweichung, sondern auch als minderwertig begriffen werden.)

Die Zuordnung dieser Merkmale ist nicht unwandelbar und eindeutig – denn gender ist immer für einen bestimmten historischen und kulturellen Punkt spezifisch. (Wall-E und Eve lassen sich deshalb womöglich auch als lesbisches Butch/Femme-Paar lesen, aber das will ich hier nicht ausbreiten.)

Wall-E als Erzählung davon, wie die Geschlechterordnung entsteht

Wall-E fungiert auf diese Weise als wunderbares Beispiel dafür, wie die Inszenierung und Herstellung von Geschlechterrollen und -stereotypen funktioniert, wie gender verfasst ist. Dabei beschreibt der Film sogar eindrücklich im Rahmen seiner Handlung, dass und wie diese Zuschreibungen nie von selbst kommen, sondern immer aus gesellschaftlichen Übereinkünften entstehen, die dem Individuum vorausgehen.

“Doing gender” in diesem Sinne beschreibt die Aufnahme und Wiederholung – und dadurch sowohl Neuerschaffung und Verstärkung, aber womöglich auch Abwandlung – der bereits existierenden Vorstellungen von gender.

In Wall-E werden die Geschlechterrollen zusammen mit der romantischen, heteronormativen Geschlechterordnung durch die Sequenzen aus Hello, Dolly! evoziert und zur Wiederholung angeboten. In diegetischer Perspektive, also rein im Inneren der Handlung gesprochen, sind sie das einzige (für uns sichtbare) Vorbild für diese Ordnung, die Wall-E hat und nach der er sein Verhalten gegenüber Eve modelliert.

Wenn du die Geschlechterordnung wählst, wählst du auch ihre Abgründe

Eine ausführliche Diskussion einiger Szenen aus den ersten 35 Minuten von Wall-E (der Film greift ja anschließend noch einmal größer die Themen von Umweltverschmutzung und menschlicher Bequemlichkeit an, dafür allein ist er noch einen Blick wert) war ein wichtiger Teil in einem Workshop, den ich im September im Rahmen der Filmlöwinkino-Filmreihe geben durfte. (Wer das feministische Filmmagazin Filmlöwin noch nicht kennt, sollte das dringend ändern.)

Die Teilnehmer_innen merkten dabei durchaus sehr kritisch an, wie sich Wall-E gegenüber Eve verhält, nachdem diese sich mit einverleibter Pflanze scheinbar abgeschaltet hat – was in unserer Wahrnehmung wie Bewusstlosigkeit wirkt. Dass Wall-E sie nun, ohne ihre Zustimmung zu haben, wie oben beschrieben durch die Gegend fährt, romantische Szenen herbeiführt usw., ist durchaus problematisch.

Denkt man die vom Film vorher etablierte Geschlechterverteilung konsequent weiter, zwingt Wall-E hier Eve ohne Consent, ohne Zustimmung ein bestimmtes Verhalten auf. Der Film inszeniert das eher amüsant bis traurig (weil Wall-E sich so einsam fühlt), folgt damit aber genau dem problematischen Narrativ, dass die Bedürfnisse des “Mannes” auch dann erfüllt werden dürften, wenn die “Frau” keine Zustimmung gibt.

Ist Wall-E dadurch ein misogyner Film, der Männern einen Freibrief geben will, Frauen ihren Willen und ihre Bedürfnisse aufzudrücken? Das vereinfacht den Film, glaube ich, dann doch auf unzulässige Weise. Aber das Beispiel zeigt sehr gut, warum es sich lohnt, auch und gerade bei Kinderfilmen genau darauf zu schauen, welche Themen sie auf welche Weise verhandeln – und darüber auch mit den Kindern zu sprechen.

Wall-E ist auch jenseits des Umweltthemas (das meiner Meinung nach, aber das wäre mal ein anderes Thema, auch durchaus sehr ambivalent abgehandelt wird) ein Film, der narrativ und inhaltlich spannend ist. Dadurch gibt es viele Ansatzpunkte, worüber man mit Kindern sprechen kann. Das macht den Film reicher, vielfältiger – und umso deutlicher ein klares Kind auch seiner Zeit, die immer noch die unsere ist.

Für Filmemacher_innen ist so eine Analyse vielleicht auch eine sinnvolle Erinnerung daran, dass es zwar erzählerisch sinnvoll und lustig sein kann, zwei Roboter in unsere Geschlechterordnung einzupassen – aber diese ist kein Paradies, man erbt dann eben auch ihre dunkle Seiten, Beschränkungen, Machtgefälle und Probleme.

(Fotos: Disney/Pixar)

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