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Das Seeungeheuer (2022)

Das Abenteuer ergibt sich hier schon aus den Dimensionen: aus dem Kontrast zwischen den zwei winzigen Menschenkörpern, die da im Wasser schwimmen, zur Oberfläche streben, und dem enormen roten „Sea Beast“, dem „Seeungeheuer“ des Titels, in dessen Nasenlöcher genug Platz ist für die Menschen. (Das ganze Bild ein einziger Schrei nach Leinwand, nach Kino. Es ist, alas, aber Netflix.)

Insofern erzählt Das Seeungeheuer zu allererst eine Geschichte von höchst verständlicher Angst und menschlicher Erfindungs- und Durchsetzungskraft. Wie sich die Menschen dieser vage an vielleicht unser 17. Jahrhundert erinnernden Welt vor den Monstren der Meere („Here be monsters“, wie auf Seekarten zu lesen war) fürchteten – um dann Wege und Mittel zu ersinnen, sie zu besiegen, zu überwältigen.

Die „Hunters“, die Jäger_innen sind es, denen die kleine Maisie nacheifert – ihre Eltern gehörten dazu, sind mit ihrem Schiff untergegangen. Aber das bekannteste unter den Schiffen ist die „Inevitable“, die „Unvermeidliche“ unter ihrem Kapitän Crow – ihm und seiner Crew ist Maisies Lieblingsbuch gewidmet, und als sie die Chance bekommt, sich heimlich an Bord des Schiffes zu verstecken, nimmt das abenteuerlustige Mädchen die Gelegenheit wahr.

Das klare Weltbild zeigt dann erste Risse, als deutlich wird, dass Königin und König sich der Jäger_innen entledigen wollen – bis auf den „Red Bluster“, dem Crow den Verlust eines Auges verdankt, sind (scheint es) alle großen Ungeheuer getötet. Jetzt soll die Marine übernehmen – aber Crows designierter Nachfolger Jacob kann sie stattdessen von einem Wettkampf überzeugen: Marine-Flagschiff gegen „Inevitable“. Wer als erstes den „Red Bluster“ erlegt, soll bleiben.

Da sind eine ganze Reihe von Handlungssträngen und Subthemen ausgelegt, und wem manches davon bekannt vorkommt, ist nicht auf der falschen Fährte: Das Seeungeheuer ist eine entschlossen-eklektische, prononciert postmoderne Mischung aus bekannten Geschichten.

Da steckt ein wenig „Die Schatzinsel“ drin (mehr Stevenson als Muppets), Fluch der Karibik als Erfolgsfranchise mit Segelbooten, visuell verweist Regisseur Chris Williams auch auf Der weiße Hai. Eine Kampfszene zwischen zwei Ungeheuern vibriert wie King Kong, und Kapitän Crows gefährliche Obsession mit dem roten Viech erinnert natürlich nicht von ungefähr an einen anderen Kapitän, der hinter einem weißen Wal herjagt.

Das sieht alles ganz wunderbar aus, auch mit viel Gespür fürs Detail, die Animation von Wasser ist bestürzend schön, die Schiffsfahrten aufregend, in der Crew der „Inevitable“ arbeiten Frauen und Männer in allen Positionen entspannt miteinander. Aber immer dann, wenn das von Nell Benjamin und Williams verfasste Drehbuch solche Referenzen einstreut, wird zugleich klar, dass es dem Film selbst an einer großen Vision, einem wirklich zu Ende gedachten Gedanken fehlt. (Kleine Bezüge auf genre-fremde Filme wie Ridley Scotts Alien oder sogar Blade Runner sind eh nur für die Erwachsenen gedacht und mit heftigem Augenzwinkern zu verstehen.)

Man merkt das daran, dass es einen ganzen Handlungsabschnitt mit einer als besonders bösartig dargestellten Figur gibt, in dem es um Waffen, Gift und ein großes Opfer geht, der dann… völlig im Nichts verläuft. Einfach bedeutungslos vor sich hin dümpelt, als sei er versehentlich gerade in eine narrative Flaute geraten, bis Wasser und Vorräte an Bord ausgingen.

Stattdessen konzentriert sich der Film zunächst auf das recht Vorhersehbare: Jacob, der einst als Waisenkind von Crow aus dem Wasser gezogen und dann großgezogen wurde, freundet sich mit der so forschen wie selbstbewussten Maisie an, beide müssen sich von ihren vorher so liebgewonnenen Vorstellungen lösen, als sie miteinander konfrontiert werden. Und natürlich von der Vorstellung der Seeungeheuer als böse Abgesandte des Schiffsuntergangs, Drachenzähmen leicht gemacht lässt schön grüßen.

Am Ende ist Das Seeungeheuer auf jeden Fall ein schönes „Creature Feature“, eine fast schon altmodische Abenteuergeschichte in sehr ansehnlichen neuen Schläuchen, eine kleine Freude also auf jeden Fall.

Der eigentlich schöne Dreh, dass der Film am Ende seiner (minimal zu langen) zwei Stunden danach fragt, wie Geschichtsschreibung, Macht und Gesellschaftsordnung eigentlich zusammengehören, das hätte noch ein paar weitere Umdrehungen, noch ein wenig mehr Revolutionsgeist gebraucht. Aber nun ja.

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Das Seeungeheuer (The Sea Beast). USA 2022. Regie: Chris Williams, 115 Minuten. freigegeben und empfohlen ab 6 Jahren. Der Film läuft seit 8. Juli 2022 exklusiv auf Netflix.

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