Festivals Filmkritiken

Sieger sein (2024)

Eine der schönen Sachen an Filmen im Allgemeinen und in der Filmkritik im Speziellen ist es ja, dass man über die gleichen Filme wirklich ganz diametral gegensätzlicher Meinung sein kann. Des einen Meisterwerk ist der anderen Zumutung.

Besonders schön ist es dann, wenn ein Film dafür sorgt, dass sogar in einem – hier und jetzt konkret: meinem – Kopf zwei unterschiedliche Meinungen zum gleichen Film zu haben: Einen Film trotz zahlreicher Schwächen dennoch toll, ihn trotz enorm starker Momente eher mau finden. Das ist, wohlgemerkt, etwas grundlegend anderes als wenn ein Film mittelmäßig, gewöhnlich, durchschnittlich ist.

Aktuelles Beispiel dafür ist Sieger Sein, der die Kinderfilmsektion der Berlinale 2024 eröffnet hatte, der neueste Beitrag aus dem Programm „Der besondere Kinderfilm“, was insbesondere heißt: originärer Stoff und also keine Verfilmung eines bekannten Buches (oder so), deutsche Lebenswirklichkeit und all das.

Es geht um Mädchen an einer Schule im Berliner Wedding, die gerne Fußball spielen und mit Mona, dem syrischen Flüchtlingskind, nochmal eine neue Dynamik bekommen: Vielleicht können sie beim „Berlin ballert!“-Hallenturnier der Schulen doch was gewinnen?

Hätte die kluge Kollegin Katrin Hoffmann mir nicht ausdrücklich verboten, für diesen Film mit Fußball-Metaphern zu arbeiten, müsste man natürlich sagen, dass dieser Film jede Menge Schüsse aufs Tor ballert und aber vielleicht die Hälfte versenkt, der Rest geht zum Teil wild daneben. Weil das aber fadester Stil wäre und nur zeigen würde, dass dem Kritiker nichts Genaueres eingefallen ist (Katrin hat recht!), muss man ein wenig genauer hinschauen.

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Mona ist neu an der Wedding 7, einer Grundschule in Berlin, nach der Integrationsklasse hat es sie mit rudimentären Deutschkenntnissen hierher verschlagen. Das Publikum kriegt von den Sprachproblemen in den ersten Momenten noch nichts mit, hier wird korrektes Deutsch gesprochen, wenn auch sehr Berlinerisch gefärbt. Denn, erklärt Mona in die Kamera, in ihrem Kopf spricht sie perfekt Deutsch, nur die Realität passt halt nicht immer dazu.

Ein eleganter Schachzug, die Protagonistin so zur Erzählerin zu machen und alle Fragen aufzulösen, warum denn hier auch in Syrien, in Monas Erinnerungen ans kurdische Rojava, alle so schön Deutsch reden. Und jetzt?

„Ja, ich bin ein Scheiß-Flüchtling!“ So geht’s gleich los, direkt und konfrontativ, und niemand soll glauben, dass sie zufrieden sei, mit der Schule, der gespendeten Kleidung. Mit elf Jahren ist sie so klarsichtig wie rotzig: „Herzlich willkommen in Deutschland: Hier, Klamotten, die keiner trägt!“ Und dann noch die wilden Vorstellungen ihrer Mutter: „Bist klug. Kannst studieren Medizin, Jura, Politik.“

Herr Chepovsky, kurz nur „Herr Che“, wird für sie die Rettung sein, der ist auch mal laut und öfter unzufrieden, dann baumelt der rote Stern am linken Ohr etwas wilder. Der geht auch mal zu den Eltern nach Hause, streitet sich mit den anderen Lehrer_innen oder der Direktorin, trainiert außerdem die Fußballmannschaft der Mädchen. Mit den anderen Mädchen dort, Jasmin, Aysel und Ayla, wird Mona sich streiten und zusammenraufen, nachdem sie Che davon überzeugt haben, Mona müsse unbedingt mitspielen: „Die spielt übertrieben gut Fußball.“

Sprachlich ist das alles so mitten aus dem Berliner Leben, dass es zuweilen schmerzt, Erwachsene sagen schonmal halbironisch „cringe“, wohl wissend, wie cringe das ist – so weit, so glaubwürdig; die Mädchen und jungen Frauen, Sherine Ciara Merai, Tamira Bwibo und Dileyla Agirman als Mona vor allem hängen sich in diese Rollen rein, in die Ruppigkeit und auch physischen Auseinandersetzungen.

Wenn’s dann zum Fußballturnier der Berliner Grundschulen (die gehen ja bis zur 6. Klasse, daran sollte man Nicht-Berliner_innen vielleicht erinnern) geht, „Berlin ballert!“, dann geht es um Gewinnen und Verlieren; es geht aber auch darum, sich zusammenzuraufen, Gefühle zuzulassen, aber auch nicht übernehmen zu lassen („Gefühle manchmal falsch“, hat Mona Herrn Che beigebracht).

Und dann geht es ums Blödsinn machen, ums Klauen und eine Rivalität mit der Jungsmannschaft, bei der Gips in die Schuhe gegossen wird, die Teams sich gegenseitig die Trikots zerschneiden und es so für alle verbocken. Da müssen dann die Pädagog_innen ran, und nicht alles ist nett.

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Denn pädagogisch ist das, was in diesem Film so passiert und besprochen und getan wird, doch stets sehr am Oberflächlichen kratzend, kaum schabend. Mit viel Pathos und großem Gestus wird nicht nur Zusammenhalt und Gemeinschaft beschworen, viel mehr noch aber die Demokratie. Was sie von der Diktatur ausmacht – dass die Schüler_innen nicht aufstehen müssen, wenn der Lehrer den Raum betritt, ist da nur der Anfang.

Als Erwachsener windet man sich da womöglich im Kinosessel, cringe, aber für das Zielpublikum, die Frage darf erlaubt sein, ist das vielleicht nicht das schlechteste Ausmaß an Direktheit? Darf es vielleicht auch mal ausbuchstabiert sein?

Ich weiß es nicht. Soleen Yusef hat bei der Premiere auf der Berlinale keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr der Film ihre eigene Fluchtgeschichte widerspiegelt – im Alter von neun Jahren kam sie aus dem kurdischen Teil des Irak nach Deutschland. Und ein „O Käpt’n, mein Käpt’n“-Moment in Sieger sein machte zusätzlich überdeutlich, wie sehr Yusef den Film als Hommage an ihren Lehrer versteht, der bei der Premiere unerkannt (und hoffentlich schwerst gerührt) im Publikum saß.

Reichlich Pathos also überall. Reichlich Drama, und natürlich ein feistes Happy End. Aber eben auch so Klartext-Sätze wie „Ich dachte, du sagst was Schlaues“ und ein sehr, sehr großes Herz für die Schüler_innen an dieser knackig-verranzten, ziemlich realistisch wirkenden Schule im Wedding.

Sieger sein tritt permanent Klischees kräftig vors Schienbein und bestätigt sie dann nochmal extra – es kann einem schwindelig werden. Ist das alles gut und gelungen? Nein, sicher nicht. Aber es ist ein Film, der sein Herz auf der Zunge trägt, der realistische Familien und Dynamiken zeigt, mit all dem ohne Rücksicht auf Verluste losläuft und dann auch wirklich nur stellenweise brachial scheitert.

Unter all den immergleichen deutschen Kinderfilmen mit ihren bürgerlich-heilen Kleinstadtwelten darf Sieger sein bitte laut schreiend, schimpfend, fluchend und jubelnd bitte so richtig auf die Kacke hauen. Wie wir sehr alten Leute sagen würden.

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Sieger sein. Deutschland 2024. Regie: Soleen Yusef, 119 Min. FSK 6, empfohlen ab 9 Jahren. Kinostart: 11. April 2024.

(Fotos: Stephan Burchardt/DCM)

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