Festivals Filmkritiken

ITFS 2021: Die Reise des Prinzen (2019)

Am Strand liegt erschöpft ein alter Prinz, angeschwemmt vom Meer. Der junge Tom findet ihn und bringt ihn zu seinen Zieheltern, dem Professor und Elisabeth, zwei Wissenschaftler_innen, die in einem alten Museum ihren Forschungen nachgehen, weitgehend isoliert und ausgeschlossen von der Gesellschaft drüben in der Stadt, in die nach und nach die Natur in Form des Waldes eindringt und sie zu überwuchern droht.

Aber mit dem Prinzen könnte vielleicht eine These des Professors bewiesen werden, vielleicht könnte das dafür sorgen, dass die Akademie ihn wieder in ihre Reihen aufnimmt: Gibt es doch noch Zivilisationen auf der anderen Seite des Ozeans? Gibt es noch andere Affen wie sie? Der Prinz aber hat gar kein Interesse daran, Studienobjekt zu sein, sondern freundet sich lieber mit dem sprachbegabten Tom an und lässt sich von ihm diese fremde Welt zeigen, in die er da hineingeraten ist… und nach und nach lüftet sich auch das Geheimnis seiner Herkunft.

Ein Film, der ganz seinen eigenen Gesetzen folgt

Le Voyage du Prince ist ein ganz und gar eigentümlicher Film, ruhig aus dem Off erzählt von diesem Prinzen, aber nur von seinen Beobachtungen berichtend, als höre man ein Reisetagebuch, das gelegentlich mit dem zu Sehenden, dem Erlebten nur bedingt zusammenfallen will. So bleibt das alles geheimnisvoll, für unsere Augen sowieso: Eine Welt, in der Affen aufrecht gehend eine Zivilisation wie im späten 19., frühen 20. Jahrhundert unserer Welt bewohnen, mit Straßenbahnen und großen Häusern, Stahl- und Glaskonstruktionen, sich wichtig nehmenden Wissenschaftlern, männlich allesamt, die im Hörsaal-Halbrund beisammen sitzen und auf Traditionen pochen.

Schon in den ersten Einstellungen strahlt die Bildsprache der Animation, die Farben wirken eiskalt, es liegt womöglich Schnee auf den Blättern. Es wird dann sehr lange weiterhin so gedeckt wirken, in getuscht wirkenden Bildern mit Hintergründen voll Licht und Schatten, Größe und Tiefe.

Jean-François Laguionie und Xavier Picard sind im vergangenen Jahr auf dem ITFS für diesen Film ausgezeichnet worden, auf dem Lucas lief er dann 2020 auch, nun noch einmal außer Konkurrenz in Stuttgart. Ich habe mit der Besprechung gehadert, nicht weil Die Reise des Prinzen so komplex oder problematisch wäre, sondern weil er sich einer präzisen Zuordnung und Benennung entzieht.

Die Dramaturgie ist ebenso gewöhnungsbedürftig wie die Hauptfigur – wahrlich kein unschuldiger, edler Wilder, wie der Professor es gerne hätte und sich nach und nach herausstellt, sondern ein arroganter, überheblicher Kriegsherr, der von seiner eigenen, so machtlosen wie behüteten Situation selbst überfordert wirkt. (Laguionie setzt damit wohl zumindest in dieser Figur und einzelnen Motiven eine Geschichte fort, die er in seinem Film Le Château des singes 1999 grundgelegt hatte; allerdings kenne ich den noch nicht und kann dazu weiter nichts sagen.)

Allegorie über die Zivilisation und technische Kultur

Das letzte Kapitel des Films macht dann erzählerisch eine ziemliche Kehrtwendung, wandert gewissermaßen in ein utopisch wirkendes Anderes und hebt den Film auf den Status einer, wenngleich manchmal etwas bemühten, Allegorie über die Zivilisation und technische Kultur, über das Analytische, „Gelehrte“ im konservativen Sinne. Über eine starre Gesellschaft, in der Wissen als nur hierarchisch zugängliches Machtinstrument gedacht und verwendet wird.

Das soll, bei allem Planet der Affen-Vibe, der womöglich gar nicht gewollt ist (vielleicht ist es auch eher ein generell dystopisches Schwingen, so eine Art Fin de siècle-Gefühl), womöglich natürlich vor allem unsere eigene Gesellschaft meinen und spiegeln, vielleicht aber auch nicht. Hauptsächlich ist Le Voyage du Prince eine wunderschön anzusehende Fantasie, ein Abenteuer mit wenig Aufregung, eine nach Steampunk schmeckende alternative Welt, die alles andere ist als Steampunk.

Ein Film in seinem eigenen Zwischenstatus, schwebend, ständig changierend und anders als die anderen. Eine Erzählung, die sich vor allem selbst genug ist.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Die Reise des Prinzen (Le Voyage du Prince/The Prince’s Voyage). Frankreich/Luxemburg 2019. Regie: Jean-François Laguionie, Xavier Picard, 75 Min. Bisher ohne FSK, empfohlen ab 10 Jahren. (Meine Altersempfehlung: ab 9 Jahren.)

(Foto: Blue Spirit Animation)

Kinderfilme für jeden Tag

In meinem neuen Buch stelle ich 100 empfehlenswerte Kinderfilme für alle Altersgruppen vor, die per Streaming jederzeit zur Verfügung stehen. Perfekt für Euch, perfekt als Geschenk für andere Eltern. Jetzt bestellen als eBook oder als Taschenbuch. Alle Bezugsquellen hier.

War dieser Beitrag hilfreich für Dich?

E-Mail-IconIch freue mich über ein wenig Unterstützung! Bestell mir etwas aus meiner amazon-Wunschliste, spendier mir einen Kaffee oder fördere das Kinderfilmblog mit einem kleinen monatlichen Beitrag.

E-Mail-IconMöchtest Du solche Beiträge öfter lesen? Melde Dich doch für den kostenlosen Newsletter an!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert