Filmkritiken

Die Eiche – Mein Zuhause (2022)

Eine stattliche Hauptdarstellerin, von nachgerade biblischem Alter noch dazu: Um 1810 hat diese Stieleiche ihren ersten Keim gen Himmel gestreckt, irgendwann spät in Die Eiche – Mein Zuhause sieht man dieses Keimen an einem jungen Trieb. Und dann steht da eine kleine Eiche in der Gegend herum… Aber ist die Grande Dame Eiche (der Originaltitel ist einfach nur Le chêne) wirklich die Hauptdarstellerin, ist sie nicht eher Hintergrund, Raum, naja: Lebensraum für all die anderen?

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Es beginnt mit einer langen Kamerafahrt hin zur Eiche, ein mächtiger Baum direkt an einem See, umgeben von anderen Bäumen; man wird den Wald vor Baum kaum sehen. Und dann geht es schon rasch ins Detail bzw. zu den womöglich eigentlichen Protagonist_innen dieses Films: Eine Maus trinkt, ein Käfer putzt sich, Vögel schauen in die Welt. Und natürlich schaut ein Eichhörnchen putzig in die Welt, huscht über den Baum.

Alles ist springlebendig

Der Film folgt dem Leben am Baum durch die Jahreszeiten, zeigt Wachstum und Neubeginn – eine Reise durchs Jahr, voll Vergehen und Neuanfang, wie man das ja aus ähnlich beobachtenden Dokumentationen schon gewohnt ist. Anderthalb Jahre lang hat das Team immer wieder gefilmt, Sequenz um Sequenz, und das Ganze dann zu einer Symphonie voller Bewegung zusammengeführt.

Hier ist alles springlebendig, und das ist gewissermaßen auch das Problem des Baums, denn der ist zwar ebenso lebendig, aber springt nicht, er bewegt sich nicht einmal, während an ihm, um ihn, in ihm, zwischen seinen Wurzeln und Blättern, dauernd Aufregung und Drama sind, Action!

Die Vielfalt des Pflanzenlebens kann so natürlich nicht sichtbar werden – das ist Laurent Charbonnier und Michel Seydoux dann sicher auch aufgefallen. Sie behelfen sich: Mit Zeitraffer, der das Wachstum eines Pilzes sichtbar macht. Mit Flüssigkeit, die sich in den Blättern, scheinbar den Zellen bewegt – ob das echt ist oder nicht, man kann es eigentlich nicht sagen, aber dann fährt die Kamera in die Erde hinein, zeigt Bewegung in den Wurzeln, die sich mit Geräuschen und Lichtblitzen miteinander verbinden… das ist keine Naturaufnahme mehr, das ist Visual Effect.

Eine Masterclass der Filmmontage

Wobei das nur sehr deutlich macht, wie sehr der Film seine Gemachtheit ausstellt, präsentiert und nutzt. Eine Grzimek’sche Erzählerstimme fehlt völlig, und dadurch wird unmittelbar erfahrbar, wie sehr der Film allein über Montage (Sylvie Lager), Kameraeinstellungen, Musik arbeitet – Erzählung, Spannungsbögen, Konflikte als pure Suggestion. Das ist eine einzige Masterclass – Die Eiche – Mein Zuhause eignet sich im Grunde als perfektes Material für den Schulunterricht, mit dem man nicht nur einiges über die Natur lernen kann, sondern noch viel mehr darüber, wie Filme gemacht sind.

Einmal, als mit dem Tag so einige Vogelarten erwachen, setzt fröhliche Swing-Musik ein, und die Schnitte, Bewegungen der Tiere sind im Rhythmus der Musik gesetzt. Eine Verfolgungsjagd zwischen Raubvogel und seiner gefiederten Beute suggeriert aufeinanderfolgende Szenen voll Spannung, haarscharfem Entkommen – Point-of-View-Shots inklusive. Tatsächlich sind die Aufnahmen über mehrere Tage hinweg entstanden. (Dass keines der Raubtiere in diesem Film jemals eine Beute fängt, ist übrigens ein echtes Problem des Films: Natur ist hier niedlich und harmonisch, niemals mörderisch und tödlich.)

Aber was für Aufnahmen! Die Kamera (Mathieu Giombini) geht ganz nah an alle diese Tiere heran, so klein oder groß sie auch sein mögen: der Rüsselkäfer, das Wildschwein, sie kriegen alle ähnliche Aufmerksamkeit. Der Blick geht auch mal unter den Baum, in eine kleinen Mäusebau, ein Starkregen bringt dort Überschwemmung – ob sich die kleinen Tiere noch retten können?

Eine sehr aufgeräumte, sehr menschliche Welt

Dann gibt es beeindruckende Makrobilder von einem Eichelbohrer, der an einer Eichel saugt; als das Tier dann zur Paarung schreitet, setzt Dean Martins Mambo „Sway“ ein. Die Fortpflanzungsrituale der kleinen Käfer werden zu einer komödiantischen Tanznummer anthropomorphisiert: „Other dancers may be on the floor/Dear, but my eyes will see only you/Only you have that magic technique …“

Die Eiche – Mein Zuhause versteckt nicht wirklich, wie sehr der hier gepflegte Blick ein zutiefst menschlicher ist, der passend macht, was sich nicht an unsere Sehgewohnheiten anschmiegen würde. Wunderschön anzusehen ist das dann übrigens natürlich schon.

Nur darf man nie vergessen: Die Natur ist weniger aufgeräumt, schmutziger, weniger musikalisch als chaotisch, auch vor allem grausamer. Aber das sind natürlich auch menschliche Maßstäbe, Begriffe und Wertvorstellungen. Was kümmert es schon die Eiche, wenn das Schwein sich an ihr reibt?

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Die Eiche – Mein Zuhause (Le Chêne). Frankreich 2022. Regie: Laurent Charbonnier und Michel Seydoux, 81 Min. FSK 0, empfohlen ab 7 Jahren. Kinostart: 9. März 2023.

(Fotos: X-Verleih)

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