Filmkritiken

Mein Leben als Zucchini (2016)

Der selbstgebastelte Drachen fliegt fest an seinem Band aus dem Fenster heraus, die Bierdosen fungieren als Bauklötze: Der neunjährige Icare, der Zucchini genannt werden will, weil seine Mutter ihn so nennt, zieht sich damit auf den Dachboden zurück. Später wird er dem Polizisten Raymond erzählen, seine Mutter habe viel getrunken, aber ab und an auch gut gekocht. Sie stürzt, im Zorn auf ihren Sohn, von der Dachbodenleiter; vielleicht war Zucchini auch Schuld an dem Tod. Ihm bleiben der Drachen, eine Bierdose und wenig mehr.

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Es gehört ein gerüttelt Maß Tapferkeit dazu, einen Animationsfilm (auch) für Kinder auf dieser Note zu beginnen: Randvoll mit Traurigkeit, misslingendem Leben, ohne Aussicht auf Glück. Und so lässt Claude Barras’ Film Mein Leben als Zucchini in jeder Szene diese Tapferkeit aus den Ritzen scheinen.

„There is a crack in everything / That’s how the light gets in“, singt Leonard Cohen in „Anthem“. Und hier wirkt alles brüchig, nichts glatt. Auch ganz physisch: Die Knetfiguren in der Stop-Motion-Animation sind blass, ihre Nasen rot, die Augen riesige Fenster in die Seelen. Sie bewegen sich immer ein wenig wie zusammengesackt, voll Müdigkeit. Wer weiß schon vorher, wann sich da ein Riss auftut?

Raymond bringt Zucchini in ein Waisenhaus, da sind alle Kinder traurig und einsam, Geschichten von Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung werden angedeutet. Die Kleinen suchen sich je ihre eigenen Auswege: Simon gibt den Anführer und macht sich über die Schwächeren lustig, Béatrice läuft immer zur Tür, wenn Fremde kommen, in Erwartung ihrer Mutter – doch als diese wirklich kommt, läuft sie ängstlich weg. Die Kinder kloppen sich, da wird es auch mal physisch, sie vertragen sich, streiten und verstehen sich und wachsen zu etwas zusammen, das anders und vielleicht mehr ist als Familie.

Dann kommt Camille ins Waisenhaus dazu, und Zucchini ist sofort verliebt. Vielleicht ist es auch eine große Freundschaft, wer weiß das in diesem Alter – aber diese Sache mit der Liebe beschäftigt sie sehr. Dann wird auch noch die Frau vom Lehrer schwanger, kommt das jetzt vom Küssen oder muss dafür doch der Schniedel explodieren, wie einer der Jungen gelernt haben will?

In Mein Leben als Zucchini ist die tragische Situation der Kinder kein Ausgangspunkt für unüberwindbares Drama, sondern Start in ein Leben, das gelebt werden will. Worauf die Kinder vertrauen können, sind geduldige, liebevolle und strenge Erwachsene im Waisenhaus, denen die Kinder alles andere als egal sind. Das hat mit Belehrung oder Moral nichts zu tun, der Film präsentiert keine belehrende Erkenntnis, wie ein besseres Leben zu führen sei.

Aber er leuchtet vor Empathie; Mitgefühl und Verantwortung füreinander ergeben sich dann quasi zwingend. Mein Leben als Zucchini erfüllt die kleinen Puppen mit mehr Leben, als die meisten Realfilme ihren Personen einzuhauchen vermögen. Vielleicht mag das verknappte Personal im Waisenhaus und ihre bedingungslose Zuneigung zu den Kindern etwas vereinfacht scheinen; aber zum einen ist es immer noch Meilen von den einfachen Gegensätzen à la Annie entfernt, und zum anderen darf dramaturgische Verknappung einiges, wenn sie den Kern nicht verkitscht.

Dass das nie geschieht, ist nicht nur der Animation zu verdanken, sondern insbesondere auch der Drehbuchautorin Céline Sciamma, die den Roman „Autobiographie d’une courgette“ von Gilles Paris großartig verknappt und umgesetzt hat. Die Frau hat vorher die Drehbücher z.B. der groß und breit und zu Recht gepriesenen Tomboy und Girlhood/Bande de filles verfasst – für ihren ersten Animationsfilm hat sie die emotionale und intellektuelle Komplexität ihrer vorherigen Arbeiten nicht ignoriert, sondern mitgenommen.

Mein Leben als Zucchini ist für einen Oscar als bester Animationsfilm nominiert und hätte ihn mit jedem Knetkügelchen seiner Existenz verdient. Ein berührender, emotional ehrlicher und beglückender Animationsfilm, ein Glücksfall fürs Kino.

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Mein Leben als Zucchini (Ma vie de courgette), Frankreich/Schweiz 2016. Regie: Claude Barras. 66 Minuten. FSK 0 (empfohlen ab 9 Jahren), Kinostart: 16. Februar 2017.

Fotos: Polyband

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