Filmkritiken

Das tapfere Schneiderlein (1956)

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„Genug geflennt!“ Da weist nicht etwa die böse Stiefmutter ein trauriges Kind zurecht, in diesem Märchen macht die aufbrausende Prinzessin ihrem Vater klar, dass ihr sein Gejammer zu viel wird. Und so ganz genau weiß man auch gar nicht, was es denn zu beklagen gibt – keine der Gefahren für‘s Königreich, denen er das tapfere Schneiderlein aussetzt, scheint wirklich soo akut gefährlich zu sein.

Aber der Reihe nach. Die wenig harmonische Königsfamilie ist ja nicht die einzige Besonderheit von Helmut Spieß‘ Märchenverfilmung aus dem Jahr 1956. Zunächst und vor allem ist Das tapfere Schneiderlein der erste große Märchenfilm der DEFA, der sich primär an Kinder richtete: Die Geschichte vom kleinen Muck (1953) und vor allem Paul Verhoevens Das kalte Herz (1950), die womöglich noch etwas erfolgreicher waren und bekannter sind, hatten noch keine so klare Zielgruppe, waren eher Märchen für Erwachsene, die sich auch für Kinder eigneten.

Kurt Schmidtchen spielt das Schneiderlein als verschmitzten, und vielleicht etwas zu selbstsicheren kleinen Kerl und wird auch in der Inszenierung immer so positioniert, dass er immer etwas kleiner wirkt als sein Gegenüber; dass er aber mit der Prinzessin nicht zusammenpassen wird, das wird schon in seinen ersten Momenten am Königshof überdeutlich – nicht nur weil ihn statt ihrer als erste die Magd Traute trifft und begrüßt.

Schon die erste Begegnung des Schneiderleins mit dem Adel legt die Gegensatzpaare klar auf den Tisch, auf die Leinwand. Prinz Eitel (der Name allein schon!) kommt zum Schneidermeister, alles buckelt und ehrerbietet, was der steife Rücken noch hergibt. Und weil der Prinz vor dem Haus mit dem Schwert nach zwei Eidechsen geschlagen (und natürlich verfehlt) hat, prahlt er sogleich, er habe „Zwei auf einen Streich“ getroffen. Durch einen Vorhang getroffen, werden Prinz und Schneiderlein wie in einem Splitscren einander gegenübergestellt: Hier der respektheischende Wichtigtuer, dort der respektlose Frechdachs.

Schmidtchens Figur wird dabei gar nicht unbedingt als besonders helle Leuchte angelegt; aber das Schneiderlein ist listenreich, sobald es einmal verstanden hat, wie die anderen ticken. Vor allem fallen ihm unkonventionelle Lösungen ein, und ängstlich ist es nun wahrlich nicht. Vor dem Riesen hat es nur so lange Angst, bis es dessen Schwächen versteht – und dann kann es halt auf einmal, ganz dem Märchen getreu, Wasser aus einem Stein pressen, einen Stein weiter werfen als der Riese und und … und schließlich einen nächtlichen Mordversuch der beiden Riesen auch völlig entspannt überleben.

Das tapfere Schneiderlein ist ein reiner Studiofilm (wie später auch Das singende, klingende Bäumchen, in dem dann Traute-Darstellerin Christel Bodenstein ihrerseits eine widerspenstige, eingebildete Prinzessin spielen sollte) – gerade aus heutiger Sicht sieht man dem Dekor das überdeutlich an, vor allem in den Pappmaché-Wäldern und -Höhlen. Zugleich unterstützt das die märchenhafte Atmosphäre: Hier haben wir es nicht wirklich mit einem idealisierten Mittelalter zu tun wie in vielen Realfilm-Märchenstreifen der Gegenwart, sondern schlichtweg mit reiner Fiktion.

In dieser laufen dann auch die Riesen, vor allem aber Wildschwein und Einhorn (das schon allein für sich ein Glück ist mit rauchendem Schnauben, rollenden Augen und einem grandios überzeichneten Maul) mit viel angeklebten Körpererweiterungen herum, dass es nur eine Freude ist.

Nach den Riesen sind freilich die Intrigen am Königshof keine wirkliche Bedrohung mehr. Die Prinzessin ist nur im ersten Moment von dem neu eingetroffenen Kämpfer eingenommen – sobald Prinz Eitel mit viel Geschmeide und Versprechungen von Gold um sie wirbt, ist das Schneiderlein schon aus dem Rennen – und der König steht unter Druck, diesen proletarischen Quälgeist irgendwie loszuwerden.

Der Adel sieht hier nicht gut aus, die Königlichen streiten vor allem untereinander („Undankbares Geschöpf!“) und interessieren sich vor allem für Besitz und Macht. Ihre Diener behandeln sie schlecht, sie sind also weder selbstlos noch mutig. Prinz Eitel, der gerne als heldenhaft gelten möchte, ist eine Lachnummer, ein Taugenichts in feinem Zwirn, der den Sieg des Schneiderleins über die Riesen als seinen eigenen ausgeben will; seine Ritter sind alle nicht weniger peinlich.

Der Umsturz des Königreichs ist ja im Kern auch schon im Märchen angelegt, in dem schließlich das Schneiderlein die Königstochter heiratet. Bei Spieß ergreifen die Royals die Flucht, stattdessen machen Schneiderlein und Magd sich gegenseitig zu König und Königin, indem sie sich gegenseitig ihre ganz normalen Kopfbedeckungen aufsetzen – und dann flickt das Schneiderlein seiner Liebsten erst einmal das Kleid.

Das ist natürlich ein Märchen im Sinne der sozialistischen Revolution: Das Ende der Monarchie zugunsten einer Herrschaft der Arbeiter_innen. Es wundert nicht, dass der Film in Westdeutschland zunächst nicht gut ankam. Filmkritiker Peter Morten sah in Die Zeit vom 25. Oktober 1956 „Ein marxistisches Schneiderlein“. Wortspielend schreibt er:

Die Spiess-Gesellen aus dem DEFA-Spielfilmstudio beabsichtigten, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem sie – wie es in dem von ihnen herausgegebenen Pressematerial heißt – “die alte, liebe Märchenerzählung mit einer Satire auf die Fürstentümelei und die bitter-spaßigen Produkte des Geburtsadels mischten”, und dann wurde daraus ein Schlag ins Leere.

Morten beschwert sich dann über die Änderungen, die im politischen Sinne vorgenommen worden seien, zum Beispiel die Darstellung der „Hofgesellschaft, wie sie im Buche steht – allerdings im marxistisch-leninistischen Geschichtsbuch, nicht in dem von Grimm.“ Er resümiert: „Und wenn sie nicht gestorben sind, haben sie mit den Bauern eine LPG gegründet und aus dem Schloß einen Pionierpalast gemacht…“

Auch in der DDR fand der Film allerdings nicht zur Zuspruch, auch dort bemerkte ein Rezensent, „Satire, Groteske, moderne Pädagogik und ein allzu aktuell-politischer Ausgang“ seien dann doch „zuviel auf einen Streich“. Allerdings wieß Hansgeorg Meiern in der Leipziger Volkszeitung darauf hin, dass der Film „das gesellschaftskritische Elemente des Volksmärchens“ letztlich vor allem „ausgebaut und logisch fortgeführt“ habe.

Solche Kontroversen waren für den deutschen Kinderfilm der Nachkriegszeit nicht völlig ungewöhnlich; Das tapfere Schneiderlein war insofern geradezu archetypisch, weil der Film in der Bundesrepublik zunächst gar nicht gezeigt werden durfte. Wie ich in einem Essay für kino-zeit.de genauer beschrieben hatte, wurde die Aufführung vom „Interministeriellen Ausschuss für Ost-West-Filmfragen“, der seinerseits auf fragwürdiger rechtlicher Basis operierte, zunächst verboten. Erst im März 1959 konnte er dann auch im Westen gezeigt werden. (Näheres zu diesem Ausschuss gibt es in diesem Text von Andreas Kötzing.)

Rückblickend ist natürlich klar, dass Das tapfere Schneiderlein nicht dazu führte, dass die Jugend in Westdeutschland auf die Barrikaden ging. Bis heute hat sich der Film unter allen DEFA-Märchenfilmen nicht nur durch sein Dekor und seine liebevolle Erzählweise viel Charme erhalten, er wirkt auch politisch keinesfalls besonders revolutionär – und in der Tat setzt er nur logisch den Umsturzgedanken fort, der im Märchen sehr versteckt schon immer zu finden war.

Das tapfere Schneiderlein. DDR 1956. Regie: Helmut Spieß, 83 Minuten. FSK 0, empfohlen ab 6 Jahren. Kinostart: 28. September 1956. (Bestellen bei amazon.de)

(Fotos: DEFA-Stiftung)

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