Filmkritiken

Coco (2017): Das konservative Familienbild hat mich wütend gemacht

Ein Gastbeitrag von Alexander Matzkeit

Manchmal hat ein Film in seinem Kern etwas, das mich so sehr stört, dass ich einfach nicht darüber hinwegsehen kann, egal was er sonst noch zu bieten hat. Pixars Coco ist wunderschön designt und animiert, er hat tolle Songs und Gags. Aber tief in ihm drin steckt ein so konservatives Familienbild, dass Coco meiner Ansicht nach seinen Charakteren nicht einmal die Chance zugesteht, wirklich aus ihren Fehlern zu lernen. So ging ich frustriert aus dem Kino, unfähig, das farbenfrohe Spektakel wirklich zu genießen.

Miguel darf nicht musizieren, weil seine Ururgroßmutter Imelda von einem Musiker verlassen wurde. So weit, so nachvollziehbar. Es ist natürlich dumm, dass Imelda nicht dem schlechten Charakter ihres Mannes, sondern der Musik die Schuld an dem Schlamassel gab, aber traumatisierte Menschen treffen manchmal irrationale Entscheidungen.

Dass die Folgegenerationen den von Imelda verhängten Bann auf jedwede Musik unhinterfragt weitertragen, ist tragisch, aber genau so funktioniert Familie eben manchmal. Wie im (wahrscheinlich apokryphen) Experiment mit den fünf Affen, den Bananen und der Leiter ist Miguels Großmutter Abuelda die größte Vollstreckerin der goldenen “Keine Musik”-Regel und gleichzeitig die erste Person, die den Schurken, der von seiner Musikerreise nicht zurückkehrte, schon gar nicht mehr persönlich kannte.

Klar finde ich auch, dass Miguel vier Generationen später anfängt, gegen das Tabu zu rebellieren und einfach trotzdem Musik macht, sicherlich zum Teil auch gerade, weil es verboten ist. Damit steckt er aber in einem fundamentalen Konflikt fest: Miguel muss sich gegen seine Familie stellen, obwohl er tief verinnerlicht hat, dass Familie einer der wichtigsten Werte überhaupt ist. Musik (Individuum) ist wichtig. Familie (Kollektiv) ist wichtig. Beides kann zu Anfang des Films nicht gleichzeitig existieren, daher verbringt Miguel den gesamten Film damit, den Widerspruch aufzulösen. Am Ende gelingt ihm das natürlich, aber das Wie ärgert mich immer noch.

Viele von uns dürften Miguels Kampf kennen – wer hat nicht schon einmal eine Entscheidung treffen müssen, die den Überzeugungen der Eltern zuwider läuft – aber nur wenige von uns hatten wahrscheinlich schon die Gelegenheit, ins Reich der Toten zu reisen, um unsere toten Ahnen zu konfrontieren. Miguel bekommt sie, und siehe da: seine Ururgroßmutter Imelda ist noch immer so störrisch wie eh und je und will ihn nur mit ihrem Segen in die Welt der Lebenden zurückkehren lassen, wenn er der Musik, also der Sache, die ihn als Einzelperson ausmacht, abschwört.

Diese Starrköpfigkeit gibt Imelda gegen Ende des Films auf. Sie gibt Miguel auch ohne Bedingung frei. Allerdings nicht, weil sie einsieht, dass es dumm war, damals der Musik die Schuld an ihrem Unglück zu geben, sondern nur weil Miguel ihr in einer Mischung aus Zufall und großem Aufwand zeigen kann, dass ihr Mann Hector sie gar nicht im Stich lassen wollte. Äußere Umstände, in diesem Fall ein heimtückischer Mord, sind Schuld daran, dass er nicht zu Frau und Kind nach Hause kehrte. Dieses von Miguel aufgedeckte Wissen legt den Grundstein für die gesamte Auflösung des Films: Hectors Rehabilitation schickt nicht nur Miguel zurück ins Diesseits, sie erlaubt auch Hector, am Dia de los Muertos wieder zu Besuch zu kommen, und der Familie, die Musik wieder zu einem Teil ihrer Identität zu machen. Am Ende tanzen alle glücklich zum Klang der Gitarre. Hurra!

Miguel hat wirklich Glück, dass sein Ururgroßvater unschuldig war. Wenn er tatsächlich ein Tunichtgut gewesen wäre, wonach es im Film lange Zeit aussieht, hätte Imelda ihre Meinung wohl nie geändert. Miguel hätte entweder im Reich der Toten festgesessen oder er wäre mit Hilfe seines wertlosen Vaters in die Welt der lebenden zurückgekehrt, um dort entweder in seiner Familie zu kuschen oder aus ihr verbannt zu werden.

Keiner der Charaktere in Coco sieht ein, dass es prinzipiell falsch ist, den Familienzusammenhalt zu zementieren, indem man Musik verbietet, genauso wie es falsch ist, Terror zu verhindern, indem man Muslime des Landes verweist. Keiner der Charaktere sieht ein, dass es – unabhängig von Imeldas Entscheidung vor vier Generationen – prinzipiell falsch ist, Miguel die Musik, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes im Blut steckt, zu verbieten, genauso falsch wie es wäre, ein Kind nur dann in der Familie zu behalten, wenn es seine Homosexualität verleugnet.

Liebe und Vergebung sind einfach, wenn sie einem leicht gemacht werden. Wenn neue Informationen ans Licht kommen, die einem zeigen, dass der verhasste Ururgroßvater doch kein schlechter Kerl war, sondern sogar ein Held, das wahre Genie hinter dem Erfolg des Sängers Ernesto de la Cruz, ist es ein Pappenstiel, die Musik wieder in die Familie zu integrieren. Die wahrhaft schwierige Aufgabe in der Kunst wie im Leben ist es doch aber, Menschen zu lieben, obwohl das, was sie tun, im Widerspruch zu dem steht, was man glaubt. Von wirklicher Größe zeugt es doch, wenn man in der Lage ist, um Entschuldigung zu bitten (und sie zu erhalten), obwohl man sehr lange davon überzeugt war, richtig gehandelt zu haben.

In Coco würde das bedeuten, dass vier Generationen Miguel gegenüber zugeben müssten, dass ihr Pochen auf Tradition falsch war. Aber das wäre nicht mit dem Familienbild des Films vereinbar. Die Familie ist als moralische Säule heilig. Sie macht keine Fehler, höchstens aus Unwissenheit, und ihre Traditionen dürfen nur verändert werden, wenn sich herausstellt, dass sie auf falschem Vorwissen beruhen. Das ist ein Familienbild, mit dem ich nicht leben möchte.

Ich möchte Widersprüche aushalten und Offenheit bewahren. Und wenn meine Familie dabei nicht mitzieht, dann muss es eben ohne sie gehen, auch wenn das schade ist. Vielleicht denke ich das, weil meine Eltern es vor rund 30 Jahren mit ihren Eltern in Ansätzen so gemacht haben. Aber ich halte es auch für einen Knackpunkt menschlichen Zusammenlebens. Man muss intolerantes Verhalten nicht akzeptieren, nur weil man mit Menschen blutsverwandt ist, und man darf seinen eigenen Lebensentwurf ausprobieren, auch wenn er nicht dem entspricht, was Urahnen vor vielen Jahrzehnten für richtig hielten.

Nachdem ich aus dem Kino kam, habe ich meine Probleme mit Coco im Internet in verkürzter Form geteilt und mir wurde zum Teil deutlich widersprochen. Es stimmt, dass Coco von Anfang an auf Miguels Seite ist und dass der Film anders als andere Filme aus dem Disney-Pixar-Universum tatsächlich seinem Held erlaubt, die Welt um sich herum zu verändern, statt seine Rolle in ihr deterministisch zu akzeptieren. Er tut es aber eben, wie oben erklärt, nur kognitiv und nicht moralisch.

Es stimmt auch, wie mich eine Filmkritikerkollegin erinnerte, dass der Film das Konzept der “Wahlfamilie” – das gerade in queeren Kreisen in den USA extrem wichtig geworden ist – durchaus positiv besetzt, wenn er zeigt, dass Hector mit anderen halbvergessenen Toten eine Art liebevolle WG führt, in der sich die Menschen gegenseitig “Onkel” und “Tante” nennen. Das ändert aber nichts daran, dass Coco Blutsverwandschaft deutlich höher ansiedelt – denn als Hector am Ende des Films stolz mit seiner “echten” Familie über die Blütenbrücke marschieren kann, sind seine Wahlverwandten von ihm genauso vergessen wie von ihren Familien in der Welt der Lebenden. Schade eigentlich.

Alexander Matzkeit schreibt über Film, Medien und Zukunft unter anderem für epd film, kino-zeit.de, das Techniktagebuch und sein Blog Real Virtuality. Er moderiert den Popkulturpodcast “Kulturindustrie”.

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Coco, USA 2017. Regie: Lee Unkrich und Adrian Molina, 107 Minuten. Kinostart: 30. November 2017. FSK 0, empfohlen ab 8 Jahren.

(Fotos: Disney/Pixar, privat)

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